Was ist Kommunikation (n. Luhmann)?

Zusammengefasst:

Kommunikation in soziologisch-systemtheoretischer Sichtweise ist eine besondere Form der lnformationsverarbeitung, die einzige ursprünglich soziale Handlung. Der Kommunikationsprozess ist als dreistellige Selektion aus Information, Mitteilung und Verstehen anzusehen. Erst rückblickend lässt sich realisieren, ob eine Kommunikation zustande gekommen ist. Um dies festzustellen, muss Ego eine Differenz von Information und Mitteilung gebildet und Alter dadurch Verstehen möglich gemacht haben. Typischerweise findet eine Anschlusskommunikation statt, um festzustellen, ob die Mitteilung verstanden worden ist. Kommunikation findet auf so vielfältige Weise statt, dass Verständlichkeit, Erreichbarkeit und Annahmebereitschaft von Mitteilungen eigentlich unwahrscheinlich sind. In jeder Gesellschaft muss dieses Problem daher auf spezifische Weise gelöst werden.

Im Einzelnen:

Luhmann schafft eine neue Variante zum Begriff der Kommunikation, weil das Wissen über psychische und soziale Systeme in der Psychologie und in der Soziologie unüberschaubar geworden ist. Trotzdem bauten die Begriffe Handlung und Kommunikation auf dem Begriff des Subjektes, der Persönlichkeit oder des Individuums auf. Demnach sind es letztendlich immer Menschen, die handeln bzw. kommunizieren. Luhmann stellt sich gegen diese überkommene Ansicht mit der Behauptung, dass nur die Kommunikation kommuniziert. In deren Netzwerk entsteht Handeln. Kommunikation kommt zustande durch die Selektion einer Information, Selektion der Mitteilung dieser Information und selektives Verstehen oder Missverstehen dieser Mitteilung und ihrer Information. Diese drei Selektionen werden reziprok antizipiert (gegenseitig vorweg genommen), wie an einem Beispiel erläutert werden kann. Die Mitteilung unterscheidet Kommunikation von der bloßen Wahrnehmung. Wahrnehmung ist ein intrapsychisches Phänomen, das von außen nicht als als solches nachvollziehbar ist. Sie kann als Information zu einer Mitteilung gemacht werden. Verstehen bedeutet, zwischen dem Informationswert der Mitteilung und den Gründen für die Mitteilung zu unterscheiden. Die Selektion ist notwendig, um die hohe Komplexität von Informationen verarbeiten zu können. Nur das Sinnvolle wird jeweils ausgewählt. Sinnhafte Kommunikation ist die Arbeitsweise sozialer Systeme.  Die dadurch erreichte Reduktion ist Anschlussvoraussetzung für die weitere Kommunikation und somit Voraussetzung der Autopoiesis des sozialen Systems

Die Informationen haben einen zeitlichen Bezug, einen Sach-Zugang sowie einen sozialen Aspekt, ebenso wie die entsprechende Mitteilung und das Verstehen. Auf jeder dieser Ebenen wird auf etwas anderes verwiesen: 

Alle drei Phasen des Kommunikationsprozesses, nämlich die Informationsbestimmung, die Mitteilung und das Verstehen/Missverstehen weisen also jeweils diese drei Ebenen Zeit, Sach- und Sozialbezug auf.

Luhmann wendet sich gegen das handlungstheoretische Verständnis der Kommunikation, indem er die Kommunikation zu einem eigenständigen System erklärt. Zwar kann man die Komponenten Information, Mitteilung und Verstehen als Akte interpretieren, ihre Selektionen werden aber erst durch Kommunikation in wechselseitiger Voraussetzung  gebildet (Beispiel). Das Kommunikationssystem erzeugt sich somit selbst, abhängig von der Umwelt und ihren Beschränkungen. Das Bewusstsein gehört zur Umwelt der Kommunikation. Es gibt kein normatives Paradigma, wie beim Begriff des herrschaftsfreien Diskurses.  Kommunikation ist nicht per se diskursiv mit dem Ziel der Verständigung, sie verfolgt keinen Zweck. Somit ist Luhmanns Kommunikationsbegriff nicht teleologisch, d.h. an Aristoteles orientiert, sondern an Spinoza. Die Systemselektion erfolgt über die Differenz. Luhmann wendet sich damit direkt gegen den auf Konsens abzielenden Kommunikationsbegriff Habermas'. Konsens- und Dissenssuche sind beide gleich rational. Weder gibt es Kommunikation ohne jeden Konsens noch ohne jeden Dissens.  

Der Kommunikationsbegriff Luhmanns ist sehr weit gefasst, wie an einem Beispiel gezeigt wird: Spricht z.B. ein Obdachloser willkürlich einen Passanten an, ist eine weitere Kommunikation unwahrscheinlich. Obwohl nicht zielgerichtet, ist die kommunikative Handlung aber intentionsverdächtig. Alter vermag durch einen in der Gegenwart stattfindenden Mitteilungsakt bei Ego in der Zukunft etwas auszulösen. Somit wird klar, dass der Mitteilungsakt (das Handeln) nicht umkehrbar ist, d.h. er ist irreversibel. Kommunikation insgesamt ist darüber hinaus riskant, denn sie führt zur Frage, ob die mitgeteilte und verstandene Information angenommen oder abgelehnt wird. Dies lässt sich erst rückblickend erschließen. In diesem Risiko der Ablehnung der verstandenen Information liegt die Notwendigkeit von Institutionen begründet, die immer Annahmebereitschaft signalisieren, wie zum Beispiel Krankenhäuser.

Werte (Normen) sind Produkte des sozialen Systems. Sie werden Mitteilungsakten zugrunde gelegt, um die Gefahr von Ablehnung der mitgeteilten Information zu verringern. Ihre Stabilität fußt auf wiederkehrender rekursiver Unterstellung. Ebenso wie Werte kann Kommunikation "nicht direkt beobachtet, sondern nur erschlossen werden" (Luhmann 1984, S.226). Durch Bezug auf den Mitteilungsakt lässt sich die Komplexität sinnhafter Kommunikation auf Handlung reduzieren. Kommunikation bildet dennoch den  soziologischen Letztbegriff. Durch Zurechnung auf svsteminterne/sytemexterne Zustände wird Kommunikation auch in der sachlichen Dimension verortet. Beim Handeln wird die Selektivität dem System selbst zugerechnet, beim Erleben der Umwelt. Dieses Verfahren dient der Komplexitätsreduktion, die bereits oben erläutert ist. Auch hierzu ein Beispiel: Kommt ein Impuls zum Klauen von innen oder von außen? Für Alter ist es die Zurechnung, ob er diesen Impuls als Handeln oder als Erleben interpretiert (Innen- oder Außenhorizont). Fragt man ihn, wird er das Klauen in der Regel als Umwelteinfluss einschätzen. Er musste etwas ohne Bezahlung aus einem Laden ‚mitgehen' lassen, um die von der Umwelt geforderte Gerechtigkeit herzustellen. Alter verzieht also beim Klauen keine Miene. 'Der Ladenbesitzer ist schließlich so wohlhabend, der merkt es gar nicht.' Er erweckt den Eindruck, das Klauen wäre umweltinduziert. Ego (z.B. der Hausdetektiv) versteht das Klauen als Handlung und die Mimik von Alter als surface-acting. Er sieht Alter als verantwortlich für sein Handeln an. Im Rechtssystem muss in einem kommunikativen Prozess der Außen- oder der Innenhorizont zugeschrieben werden. 

Diese nachträgliche Zuschreibung könnte anders ausfallen, wenn es sich bei Konflikten um eine Affekthandlung handelt. Dabei erlebt Alter das starke Gefühl als Umwelteinfluss, ohne es noch kontrollieren zu können. Es besteht ein starker Druck, solche Fragen richtig zu entscheiden. 


Anmerkungen:

Aristoteles (384-322 v. Chr.): Alles Geschehen ist auf das Göttliche als leitendes Prinzip bezogen. Link: B. Schiller 

Spinoza (1632-1677): Die Lehre soll aus der Eigentümlichkeit des Gegenstands hervorgehen. Link: www.uni-essen.de

Ein System lässt sich als Anzahl wechselseitig voneinander abhängiger Elemente und ihrer Beziehungen definieren. Dessen Wesen wird bestimmt durch Abgrenzung von der Umwelt mittels Schaffung einer Differenz durch Kodierung. Beispiel eines entsprechenden Mediums: Haben/Nicht Haben. Ein System ist selbstreferentiell, d.h. auf sich bezogen, kann für sich handeln. Es reproduziert sich selbst (Autopoiesis), ist jedoch umweltoffen und von ihr abhängig. 

Beispiel für Kommunikation:

Die Information von Alter besteht in einer Auswahl (Selektion) des Weltwissens, die Form seiner Mitteilung geschieht über eines der Medien (z.B. Sprache), sodass Ego diese Mitteilung verstehen oder nicht verstehen kann. Versteht er sie nicht und möchte mehr wissen, kann er die Kommunikation fortsetzen. Versteht er sie spontan, kann er sie unmittelbar zum Abschluss bringen.

Ohne Selektion von Informationen kommt es zur Abnahme von Mitteilungen (Botschaften), die ihren Bestimmungsort finden. Eine zu große Vielzahl verstopft die Kommunikationskanäle, dies hat in der Regel Angstgefühl zur Folge. Außer zu fliehen, sich tot zu stellen oder zu kämpfen hat Ego aber die Möglichkeit, die Sichtweise Alters zu hinterfragen und dadurch den Sinngehalt der Mitteilung in Erfahrung zu bringen (n. Ruesch/Bateson, S. 41 ff.). 


Literatur/Fragestellungen

Niklas Luhmann:

"Handlungstheorie und Systemtheorie", S.50-66 
"Erleben und Handeln", S.67-80
"Schematismen der Interaktion", S.81-100
"Zeit und Handlung - eine vergessene Theorie S.101-125
"Temporalstrukturen des Handlungssystems: Zum Zusammenhang von Handlungs- und Systemtheorie", S.126-150

"Kommunikation und Handlung", S.191-242

"Was ist Kommunikation?", S.113-125
"Die Soziologie und der Mensch", S. 265-274


Jürgen Ruesch/Gregory Bateson:

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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